Autor: Valentin Nowotny
Ende des 20. Jahrhunderts: Myriaden von Studienergebnissen und Tonnen von wissenschaftlich bestens untersuchten Modellen und Vorgehensweisen wie Führung optimal „funktioniert“. Die Wissenschaft hat eben etwas festgestellt, und alle anderen haben das dann umgesetzt. Die Führungslehre war fast so etwas wie eine Geheimwissenschaft. Nur Eingeweihte wussten z.B. wie ein Assessment aufgebaut ist und auf welchem Wege man die „wahren“ Talente identifizieren konnte. Nur 20 Jahre später am 23. März 2017 schreibt die Zeit: „Flache Hierarchien: Nur ein Chef ganz oben?“ Einen Tag vorher fragt der Berliner Tagesspiegel: „Führungskultur: Die fatale Selbsteinschätzung deutscher Chefs“ und geht von einem Verlust von 105 Milliarden Euro für die deutsche Wirtschaft, angerichtet durch „schlechte Führung“. Mitarbeiter sehen die Leistung der Führungskräfte sehr häufig ziemlich kritisch, fragt man die Führungskräfte, ist aus deren Sicht zumeist alles im Lot.
Wenn sich allerdings 80 Prozent aller Mitarbeitenden eine flache Hierarchien wünschen und ein mittleres Management vorzieht, das berät und unterstütz, nicht aber disziplinarisch agiert, dann ist das schon ein Zeichen. Professor Gary Hamel berichtete in einem BBC-Podcast im Februar 2015 von einem US-amerikanischen Hightech-Unternehmen, bei dem die 400 sehr gut qualifizierten Mitarbeitenden genau einen disziplinarischen Chef haben, darüber hinaus jedoch alles andere „Führungshandeln“ mit wohl durchdachten Instrumenten der Selbstorganisation und geteilten Verantwortungsübernahme realisiert wird, da gab es stets staunende Gesichter als ich hiervon in Seminaren und Workshops erzählte: „Was sowas geht? Erstaunlich! Naja, ist sicher ein Sonderfall!“. Dieser „Sonderfall“ wird jedoch inzwischen in vielen Fällen langsam aber sicher zu einer gelebten Realität. Das über Jahrzehnte hin erfolgreich praktizierte situative Führen wird in einem solchen Kontext entweder in einen gemeinsamen Reflexionsprozess überführt („Wie reif bin ich bzw. sind wird in Bezug auf bestimmte Aufgaben“) und in einem wechselseitigen spielerischen Aushandlungsprozess, z.B. mit dem Management 3.0 Tool „Delegation Poker“ immer wieder neu und spielerisch austariert.
Transformationale Führung gilt als einer der erfolgreichsten Führungsansätze weltweit: Vorbildliches und an Werten orientiertes Verhalten, inspirierende Methoden und Vorgehensweisen, geistige Anregung und ein hoher Grad an individueller Beachtung und Möglichkeiten, Gedanken und Ideen einzubringen, das ist attraktiv für die Mitarbeitenden von heute. Das jedoch geht nur mit einem Führungsverständnis „auf Augenhöhe“, wo Ziele gemeinsam gesetzt und auch gemeinsam erreicht werden, wo die Ergebnis-Qualität von allem im Blick behalten wird und wo Feedback wechselseitig erfolgt. Führung wird zur Commodity, zu einem wichtigen Rohstoff, zu einer Serviceleistung, die sich auch auf viele unterschiedlichen Schultern verteilen darf. „Führung ist zu wichtig, als dass man sie (alleine) den Führungskräften überlassen sollte.“
Es ist zu einfach, immer nur nach der allmächtigen Führungskraft zu rufen, die soll es dann richten. Für viele eine allzu einfache Begründung, nicht in die Verantwortung gehen müssen. Klassische Instrumente, wie z.B. das situative Führen, bleiben aktuell, allerdings nur als eines von vielen Instrumenten, und nur dann, wenn sich Führende und Geführte bewusst für ein solches Modell entscheiden, weil es z.B. den Mitarbeitenden in einer spezifischen Situation optimal unterstützt. Allerdings: „wirksame Werkzeuge folgen sich wandelnden Werten“. Und das bedeutet: das Zeitalter der geteilten Führung ist eingeleitet. Und alleine schon deswegen ist es notwendig, dass alle, die in Unternehmen eine positive Veränderung bewirken wollen, sich mit diesem ganzen „neumodischen Zeugs“ beschäftigen. Auch das transformationale Führen haben viele, die heute in leitenden Funktionen tätig sind, nicht im Studium gehabt. Und die Selbststeuerung von Teams mittels Kanban, Daily Standup und anderen Instrumenten des agilen Managements hat heute für viele Unternehmen einen ähnlichen Stellenwert wie noch vor fünf oder zehn Jahren das Jahres-Zielgespräch.
Nur einmal im Jahr zu überlegen „Stimmt denn die Richtung? Sind wir noch on-track?“ ist zu wenig. Die neue Wirtschaftswelt braucht schnelle Anpassungen, und zwar in sehr viel kleineren Zeiteinheiten. Nicht willkürlich und als Selbstzweck, sondern als ein miteinander ausgetragener und klug getakteter Lern- und Entwicklungsprozess, der es ermöglicht, das aus Kundensicht bessere konsequent dem vermeintlich guten vorzuziehen. Die Führung von Morgen muss vieles ermöglichen, insbesondere schnelle Lernprozesse, eine hohe Beweglichkeit und sehr viel positive Energie!
Heute im Herbst 2019 ist zumindest klar, wie Digital Leadership, also das Führen mit Medien, gelingen kann. Näheres hierzu finden Sie in dem Buch „Führen mit Telefon, E-Mail, Video, Chat & Co.“, das vor kurzem bei Schäffer-Poeschel neu erschienen ist.